Parallelwelten


Bildhauerei ist Gestaltung von Oberfläche und Form im Raum. Wie vielfältig und komplex diese sein kann, demonstriert Michael Ball mit seinen plastischen Arbeiten der letzten zehn Jahre.

Bei seinen jüngsten Werken stellt er Ausschnitte aus Holzpappen in den Raum, und damit nicht nur den Dialog figürlicher Schemen her, sondern auch jenen zwischen Linie, Fläche und Raum. Akzentuiert er hier die Interaktion von Linearität, positiven Flächenformen und negativem, leerem Zwischenraum, so steigert er die Räumlichkeit seiner Pappschemen mit einem figurativen Ausschnitt vor fragmentiertem Bühnenbild. Graphisches und Plastisches verbinden sich in seinen Arbeiten, die eine Pendelbewegung offensichtlich werden lassen zwischen Graphik über Collage zu Plastik und zurück.
Auch bei den vollplastischen Arbeiten, deren Gestalt nicht selten aus einer Bildfindung durch Zeichnung und Collage entwickelt wurde, gibt es solche, die Flächiges akzentuieren. So etwa den „Sonnenmann“, eine vollplastischer Körper, der anstelle des Kopfes einen Fächer trägt; oder die „Relieffigur“, bei der das Relief, das ja eigentlich ein dreidimensionales Bild ist, mit anderen zu einem aufrecht stehenden Kubus kombiniert und in den Raum gestellt wird.
Auch sonst glättet Michael Ball die Oberflächen seiner plastischen Schöpfungen nicht, sondern belebt sie durch Einschnitte, Kanneluren, Grate, Beulen und Schrunde. Auf diese Weise formuliert er nicht nur eine Sprache der Oberfläche, auf der sich Form mit Licht und Schatten verbindet, sondern akzentuiert auch den Akt der Schöpfung. Er selbst beschreibt, dass er dabei forme, das Geformte zerteile, es wieder zusammenfüge, viele Dinge zusammenführe und zu einem Werk verschmelze. Wachsmodelle werden mit Fundstücken kombiniert, die Silikonformen vorhandener Figuren partiell mit Wachs ausgegossen, um sie mit anderen Teilformen zu einer neuen Gesamterscheinung zu vereinen. Seine Bildhauerei ähnelt deshalb der Collage.

Viele seiner Figuren gewinnen ihre Gestalt durch das leicht form- und verformbare, wandlungsfähige Wachs, manche durch Terrakotta, um dann in Bronze gegossen zu werden. Dabei legt er Wert darauf, dass ihr Gegossensein sichtbar bleibt. Anders als bei traditionellen Bronzefiguren, bei denen Grate geschliffen, Oberflächen geglättet und poliert werden, sublimiert Michael Ball die rohe und raue Materialität seiner Gussfiguren nicht. Nahtstellen und Stoßfugen der frühen Hohlfiguren werden nicht verstrichen. Auch Schamottreste bei vollplastischen Güssen werden nicht entfernt, Gussfehler, wie etwa Löcher, akzeptiert. Auch die Gusshaut, jene dünne Schicht, die sich zwischen Gussform und Gussstück bildet, erhält er bewusst. Eigentlich ergibt sich ihre Farbigkeit durch das Fundieren der verschiedenen Materialanteile eher zufällig, dennoch gelang es Michael Ball durch intensive Beschäftigung bei freiem Umgang mit den Gusstechniken, einen speziellen Rotton der Bronzefiguren zu erzielen, welcher gleichsam das äußerlich sichtbare Äquivalent zur inneren Geschlossenheit dieser Werkgruppe ist.

Seine Figurenwelt beleben Tänzer, Gnome, Krieger, Grantler, Grobiane, Wächter, Spieler, aber auch Stehende, Blickende, Fühlende, Sprechende, sowie eine Reihe von Kopfformen. Anders als ihre Namen nahe legen, sind es aber weder Abbilder noch Typisierungen von Menschen, sondern ebenso wie Monsterfrosch, Fisch und Pferdefisch, aus der bildhauerischen Formung entstandene Hybridwesen, oftmals eine Mischung aus Tier und Mensch, die nicht aus unserer alltäglichen Lebenswirklichkeit, sondern eher einer Traumwelt entsprungen zu sein scheinen.

Angesichts ihrer könnte man sich erinnert fühlen an die Bildfiguren der Naturvölker Afrikas und Ozeaniens, die schon zu Beginn des  20. Jahrhunderts von europäischen Künstlern als Vorbild oder Inspirationsquelle für ihr eigenes Werk genutzt wurden. Wahrgenommen wurden nicht ihre Funktionen und Bedeutungen als Idol oder Kultgegenstand, sondern ihre ikonischen und ästhetischen Qualitäten. Geschätzt wurde die Ursprünglichkeit, Einfachheit und Eindringlichkeit der allgemein verständlichen Formen.
Doch anders als die Künstler der klassischen Moderne eignet Michael Ball sich die Formensprache des „Primitivismus“ weder an, noch zitiert er sie. Eher ist eine Parallelität im Schaffensprozess spürbar. Weder hier noch dort verdankt sich das Werk der Arbeit nach der Natur, der Mimesis, auch werden weder Eben- noch Abbilder geschaffen. Noch nicht einmal Vorbilder existieren für das Schaffen Michael Balls. Seine Wesen entstehen bei und aus der Formung.

Sein Bildhauerkollege Bernhard Dominik beschreibt prägnant, dass Ball die künstlerische Arbeit als offenen Prozess begreife, „als ein Dahintreiben in einem Raum innerer Gelöstheit - bei gleichzeitiger Konzentration auf die Momente, in denen Gestalten aus der Tiefe schemenhaft emporsteigen“.
Hier wird also kein Konzept, kein Entwurf realisiert. Hier bestimmt nicht die Rationalität den Arbeitsprozess und sein Ergebnis, sondern die künstlerische Erfahrung im Umgang mit dem Material sowie die aktuelle Gestimmtheit und Befindlichkeit während der gestaltenden Arbeit.
Die Figuren sind offenkundig nicht aus dieser Welt, sondern aus einer inneren, und damit zutiefst subjektiv und individuell. Während der Formung entstehen jedoch auch Kürzel und Verkürzungen,  allesamt Abstraktionen von menschlicher Gestik und Körpersprache, durch welche die Figuren trotz aller subjektiven Formung objektiven Ausdruck erhalten. Dieser ist gleichsam archetypisch und wesenhaft. Er bewirkt, dass die Figuren in ihrer Wirksamkeit an keinen Sprachkreis gebunden sind und somit allgemein verständlich werden.
Durch Irrationalität und psychischen Automatismus entsteht somit ein Grad von Abstraktion, der als bildnerische und visuelle Weltsprache gelten kann. Und so erweisen sich die Bildfiguren, die nicht aus dieser, sondern aus einer parallelen Welt stammen, doch als weltzugewandt.

Michael Ball erreicht mit ihnen das Ziel, das schon sein ehemaliger Lehrer Eduardo Paolozzi hatte, nämlich in die Skulptur einzudringen und sie über das Ding hinausgehend gegenwärtig zu machen.


Finkeldey, im Januar 2006

 

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